Donnerstag, 26. Dezember 2024
 
   
 

 

Die Hamburger Hafencity ist ein viel besichtigter Hotspot mit spannenden Museen, Restaurants, Clubs und international gefeierten Architekturexperimenten. Der Interiordesigner Andras Koos lebt mittendrin – und nutzt die Gunst der Lage.

 

Text Petra Mikutta  Fotos Thomas Schweigert

 



Nur wenige Schritte vom blütenweißen Esstisch und den filigranen weißen Stühlen entfernt schwappt braunes Elbwasser gegen die Kaimauer. Eine sanfte Brise weht Aerosol- und Dieselaroma, fernes Motorenbrummen, Gesprächsfetzen und Lachen zum Fenster herein: Spaziergänger flanieren über die Uferpromenade. Sie bestaunen ein Wohn- und Bürohaus des Stuttgarter Büros Behnisch Architekten: den Marco Polo Tower, der auf der gegenüberliegenden Seite des Flussarmes eine waghalsige Pirouette dreht.

 

Sie bewundern die Elbphilharmonie der Schweizer Herzog & de Meuron, die ihre mehrere hundert Millionen Euro teure gläserne Krone aufgesetzt bekommt. Sie erfreuen sich an der Herde Riesengiraffen am Horizont: Hafenkräne, die ihre langen Metallhälse zwischen Containerbergen recken. Einige der Ausflügler werfen dem großen, schmalen, schwarz gekleideten Mann verstohlene Blicke zu, der das spektakuläre Panorama von einem Logenplatz aus genießt: Andras Koos lehnt an der sechs Meter hohen Glaswand, die seine 120 Quadratmeter große Erdgeschosswohnung mit Galerie nach Süden und Osten öffnet.

 

 



Von seinem Wohnzimmer aus kann Andras Koos das maritime Treiben beobachten

„Schön hier, oder? Fast wie am Meer“, sagt er. Seit 2006 lebt der Interiordesigner in der Hamburger Hafencity. Das maritim anmutende Viertel liegt nur zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt und ist mit 157 Hektar das größte Innenstadtentwicklungsprojekt Europas. Baubeginn war 2001. Einige Straßen sind immer noch Schotterpisten, und viele Grundstücke erinnern an den Braunkohletagebau. Bis 2015 sollen die letzten Baumaschinen abgezogen, die letzten Gerüste abgebaut sein. Dann werden entlang der Kais rund 12.000 Menschen leben und mehr als 40.000 ihr Geld verdienen. „Hier ist nichts gewachsen, alles ist bis ins Detail geplant. Jeder, der hierher zieht, fängt bei null an und startet neu. Das inspiriert und fasziniert mich“, sagt Andras Koos.

 

Nicht nur ihn: Die Stadt rechnet mit drei Millionen Besuchern pro Jahr, die diese städtebauliche Pio-nierleistung besichtigen werden – und leibhaftige Pioniere wie ihn.  Neben Spaziergängern zählen Angestellte und Nachbarn zu seinem „Publikum“: Im Osten und Norden grenzen gläserne Büro- und Wohntürme an einen gemeinsamen Innenhof. Die fußballfeldgroße Landschaftsgartenskulptur, die einem Zebrastreifen nachempfunden sein könnte, liegt elegant und einsam in der Sonne. Warum wird sie nicht benutzt? „Liegestühle und Schirme würden die Ästhetik stören, das haben wohl alle, die Zugang haben, intuitiv begriffen“, sagt er. Stören ihn die „tausend Augen“, die ihn und seine Wohnung ins Visier nehmen? Wünscht er sich gelegentlich eine Hecke oder kleine Fenster mit dichten Vorhängen wie im Schlafzimmer oder Bad? Andras Koos antwortet mit Physik: Einblicke sind nur möglich, wenn es drinnen heller als draußen ist, was tagsüber fast nie der Fall ist. Darum kann er meist sehen, ohne gesehen zu werden. Die verstellbaren Sonnenschutzlamellen vor der Fassade bieten zusätzlichen Sichtschutz.

 



Auf dem Coffeetable aus massiver Kirsche (Andras Koos) werden die Murano-Glasvase, eine silberne Schale von Cassetti und die blaue Vase „Atlas“ (Koos) inszeniert

„Nur sehr selten bekomme ich ein Zoogefühl“, sagt er und fügt lachend hinzu: „Ich habe mir hier angewöhnt, Pyjama zu tragen.“ Das gezielte Zurschaustellen ist dagegen Konzept: Die Wohnung dient zugleich als Atelier und als Ausstellungsraum. „In meinem Leben gehören Beruf und Privates zusammen. Darum macht es keinen Sinn, beides räumlich zu trennen“, sagt er. Beratungen und Besprechungen finden am Esstisch oder auf dem Sofa statt. Kunden können einiges über den Designer erfahren, das über professionelle Vorlieben und Eigenschaften hinaus-geht. So erzählt die Vitrine voller Autominiaturmodelle, die beim Schreibtisch steht, von Andras Koos’ Vorliebe für eine italienische Sportwagenmarke. Die beiden Gitarren neben der Treppe zur Galerie weisen ihn als Hobbymusiker aus: „Flamenco begeistert mich besonders“, erzählt er und dass die Akustik des Raumes fantastisch sei. In der Luft schwebt leichtes Knoblaucharoma, das verrät, dass er die Küche, die makellos glänzt, tatsächlich benutzt.

 

„Es stört mich nicht, meinen Klienten Einblicke zu gewähren“, sagt er, „schließlich erfahre ich auch sehr viel über meine Auftraggeber. Gegenseitiges Kennenlernen schafft Vertrauen, was eine wichtige Basis für gute Zusammenarbeit ist. Wie könnte ich Interiors für völlig Fremde maßschneidern? Außerdem bekomme ich nie unangemeldet Besuch.“ Bleibt Zeit genug, Spuren zu verwischen: „Dabei hilft mir auch, dass ich ein sehr ordentlicher Mensch bin.“ Einmal pro Jahr dekoriert er die Wohnung um: „Ich betrachte sie als Labor, in dem ich mit Stilen und Mixturen experimentiere.“ Zuletzt sind Couchtische und Sideboards aus eigener Kollektion, an denen er sich sattgesehen hatte, ins Lager gewandert. Wohnaccessoires im Ethno-Look traten den vorläufigen Ruhestand an, an ihrer Stelle durften Deko-Objekte der Postmoderne Einzug halten.

 



Ganz in Weiß präsentiert sich der Essplatz. Stühle und Tisch „Emmimobili“ sowie das hochglanz­lackierte Mahagoni-Sideboard „Thor“ sind Entwürfe von Andras Koos. Die Wanduhr stammt von Alivar, die Vase auf dem Tisch von Ivan Bay

„Diese Epoche hat zwar fast durchgehend gestalterische Pannen hervorgebracht, für den Bolidismo habe ich aber eine gewisse Sympathie“, sagt er über die kurvenreiche Variante der Postmoderne, die Anfang der 90er-Jahre im Trend war. Die rote Liege, eine zierliche, kurvige Schönheit, die er damals in dem Stil entworfen hat, genießt sogar ein Dauerwohnrecht. Der Pragmatiker zeigt sich sentimental: Einige Möbel und Accessoires seien Teil der Biografie, treue Weggefährten, von denen er sich einfach nicht trennen wolle.

 

An Teppichen, Tapeten und Dekostoffen hängt sein Herz dagegen nicht: Andras Koos hat sie allesamt als zu anheimelnd empfunden und verbannt. „Zurzeit gefällt mir das Rohe, Raue, eine Art Parkhausoptik“, sagt er. Der nackte, nicht polierte Estrich ist weiß gestrichen, ebenso der Putz an Wänden und Decke. „Der Verzicht auf Wohntextilien ist eine Absage an mehrheitsfähigen Kommerz und eine Vereinfachung, die dem Raum zugute kommt.“ Die Sonne findet eine leere Leinwand vor, auf der sie dramatische Schlieren und Zacken zeichnet und heitere Schattenspiele inszeniert. „Das Licht belebt die -Flächen und gibt dem Raum Musik.“ Andras Koos stellt die Stereoanlage an, sanfter Jazz schwebt durch die Luft, und in der Ferne brummt ein Schiffshorn: Der Klang der großen weiten Welt hallt in seiner kleinen harmonisch wider.

 

 

Komplette Story: H.O.M.E. Deutschland Oktober 2009