Donnerstag, 3. Oktober 2024
 
   
 



VOR-DENKER

Ronan und Erwan Bouroullec sind Design-Philosophen, die im Interview ­reifliche Überlegungen anstellen. Und das ist gut so. Denn so wie die beiden heute denken, werden wir vermutlich morgen wohnen. Weißer und blauer Stuhl aus der Kollektion
„Facett“ von Ligne Roset Mode: Ronan trägt einen Pullover von John Galliano, Hose von Sandro, Schuhe von Paul & Joe; Erwan trägt sein private Kleidung; H.O.M.E.-Autor Stefan Adrian in einem Pullover von Eric Bompard, Hose von The Kooples, Schuhe von Dior Homme; H.O.M.E.-Regisseurin Lena Fritz trägt ihre private Kleidung


Die Idee ist, die Brüder zuerst getrennt voneinander zu befragen, bevor es zum gemeinsamen Interview geht. Weswegen, fragen sie. Um das brüderliche Element herauszufinden. O. k., sagen sie, ihre Überraschung hält sich in Grenzen. Es beginnt Ronan, der Ältere der beiden. Erwan raucht inzwischen eine Zigarette im Hof. Ronan hat mit dem Design begonnen und hat seinen fünf Jahre jüngeren Bruder an Bord geholt. Früher wollte Ronan wie die meisten Jungs ein Fußballer werden. Die Design-Schule war sein letzter Ausweg, dass doch noch was wird aus ihm, wie er augenzwinkernd sagt.

 

Ronan, erinnern Sie sich an ein Objekt aus Ihrem ­Eltern­haus?
Wir sind in der Bretagne aufgewachsen. Meine Eltern haben ein altes Bauernhaus gekauft, als ich drei Jahre alt war. Das musste renoviert werden, und ich war in vielen Antiquariaten mit alten Stühlen. An was ich mich aber wirklich erinnere, war meine erste digitale Uhr. Das war damals eine neue Sache, ich durfte mir zu meinem neunten Geburtstag eine aussuchen. Ich habe Wochen überlegt, bevor ich mich entschieden habe. Heute habe ich nicht wirklich viele Objekte um mich herum, vor allem nicht solche, die ich selbst entworfen habe. Eigentlich umgebe ich mich sogar mit recht hässlichen Dingen. Ich denke, das ist wie bei einem Sänger: Der hört zu Hause auch nicht seine eigene Musik.

 

 

Haben Sie schon mal ein Objekt gestohlen, weil Sie es schön fanden?
Ja, ein Buch, das sehr wichtig für mich war. Es ist eine Ausgabe über den amerikanischen Minimal-Artist Donald Judd. Ich war 16, es war eine deutsche Ausgabe, aber das war mir egal. Es ist großartig, es ist mein Lieblingsbuch, und ich habe es immer noch.


Waren Sie beide Konkurrenten als Brüder, vielleicht im Fußball?
Nein, denn Erwan war ein schlechter Fußballer. Ich war acht, als ich Fußball entdeckt habe, und ich habe jahrelang nach der Schule gekickt wie verrückt. Ich bin sehr obsessiv, wenn ich etwas mache. Wettbewerb ist wichtig, ich muss von gewissen Zielen angetrieben sein. Allerdings geht es heute in meiner Arbeit mehr um einen Wettbewerb mit mir selbst. Um besser zu werden.


Drei Wörter, mit denen Sie Ihren Bruder beschreiben würden?
Das ist schwierig. Erwan ist eine sehr komplexe Persönlichkeit. Man könnte sagen, er lebt in seiner Blase. Er ist auf die Probleme konzentriert, die er lösen möchte. Er kümmert sich nicht viel um die Geschichte des Designs. Auf diese Art umgibt ihn das alles nicht, was auch eine große Chance ist. Er hat eine Art gesunden Wall um sich herum, und es ist ihm egal, ob die Leute das mögen oder nicht. Ich bin etwas sensibler, was das betrifft. Ich muss verstehen, was die Menschen denken, ich brauche mehr verschiedene Elemente, um meine Arbeit zusammenzustellen. Ich mag das Wort pur nicht unbedingt, aber Erwan hat einen puren, speziellen Weg.


Einen Charakterzug, den Sie gerne von Ihrem Bruder hätten?
Rolf Fehlbaum von Vitra hat uns mal so beschrieben: Erwan ist wie ein Stachelschwein. Er hat eine Idee und diskutiert nicht darüber, sondern glaubt ganz stark daran und marschiert darauf zu. Ich bin mehr wie ein Fuchs. Ich habe eine Idee, aber ich nähere mich von verschiedenen Seiten. Diese beiden Charaktere werden oft benützt, um Künstler zu beschreiben. Picasso etwa war ein Fuchs, während Bach ein Stachelschwein war. Erwan und ich sind sehr unterschiedlich, aber wir verwenden das, um uns zu stimulieren. Ich weiß, was ich von Erwan bekommen kann – und er umgekehrt wahrscheinlich auch.


Hatten Sie jemals das gleiche Objekt der Begierde?
Nein, das ist nie passiert.


Die kritischste Situation, in die Sie beide geraten sind?
An kritische Momente aus unserer Kindheit am Pool oder im Meer erinnere ich mich nicht. Aber nach 20 Jahren Arbeit erreicht man einen Punkt, an dem man nicht so leicht zufrieden ist. Unsere Vorgehensweise ist sehr ateliermäßig. Wir haben selten Meetings, wir organisieren die Dinge um uns, damit wir geschützt an unseren Projekten arbeiten können. Wir drehen dieselbe Idee die ganze Zeit in unseren Köpfen, und wenn zwei das Gleiche machen, kann es passieren, dass wir tagelang nicht miteinander sprechen. Da kann es zu richtigen Spannungen kommen, auch, weil wir mit uns selbst frustriert sind, wenn wir die Lösung nicht finden.
Klingt nach einem sehr künstlerischen Ansatz.
Nun ja, wir sind eben nicht sehr organisiert. Vielleicht könnte man uns als romantische Designer betrachten. Wir machen nicht so viel, sondern konzentrieren uns auf wenige Projekte und Problemlösungen. Wir machen wenig, aber das umso intensiver und so lange, bis es unseren Ansprüchen gefällt. Wir sind die ganze Zeit dabei, Absagen zu erteilen, weil wir nicht zu viele Kunden wollen. Es gibt viele Arten, Design zu machen, aber das ist die Art, für die wir uns entschieden haben. Vielleicht ändert sich das mal. Wir sind wie Tänzer, die jeden Tag das Gleiche wiederholen, bis die Bewegung passt.


Die peinlichste Situation, in die Sie mal geraten sind?
Da fällt mir nichts ein. Aber wenn wir eine Ausstellung haben, fühle ich mich manchmal peinlich berührt, weil ich denke, es könnte besser sein. Manchmal sehe ich bei Freunden alte Objekte und schäme mich ein bisschen.


Und wann sind Sie zufrieden?
Manchmal ist es einfach nur ein Moment, im Auto, mit einem bestimmten Lied und der Kontext stimmt. Oder wiederum wie bei einem Tänzer, wenn er im richtigen Moment die richtige Bewegung findet. Das passiert auch im Design. Ein gutes Objekt hat nicht nur eine gute Funktion oder eine gute Form, es hat etwas Magisches, eine Finesse, einen Charme, und wenn das alles zusammenkommt, bin ich zufrieden. Aber ich muss auch vergessen, was vorher war. Deswegen umgebe ich mich nicht mit meinem Design.

Ronan steht auf, Erwan nimmt Platz. Sie sagen nichts, sondern sehen sich kurz mit einem wissenden Lächeln an. Wie sein Bruder ist Erwan ebenso höflich und zuvorkommend, und genauso ruhig im Ton. Vor Kurzem ist er Vater geworden, auch wenn ihn das – zu seiner eigenen Überraschung – nicht so verändert hat, wie er gedacht hätte. Er sei immer noch ein Kindskopf, meint er mit einem Schulterzucken. Ronan vergräbt sich inzwischen auf einem Sofa und widmet sich seinem iPad.


Erwan, erinnern Sie sich an ein ­Objekt aus Ihrem Elternhaus?
Ich erinnere mich an große und laute Maschinen. Neben unserem Haus gab es einen Bauernhof. Also gab es viele Traktoren, die auf einer nicht ­asphaltierten Straße, welche im Winter sehr matschig wurde und von Bäumen umzäunt war, ­entlang­gefahren sind. Ich habe ­zugesehen und mich dann gefragt, was sie machen. Davon war ich ziemlich fasziniert.


Haben Sie mal ein Objekt gestohlen, weil Sie es schön fanden?
Wie alle Kinder habe ich Süßigkeiten gestohlen, aber nichts, das von Bestand war.


Kennen Sie den Satz: Mach’ nicht, was dein Bruder gemacht hat?
Nein. Zwischen uns sind fünf Jahre Unterschied, also wurden wir nicht so viel verglichen.


Waren Sie beide Konkurrenten als Brüder?
Auch nicht. Ronan hat mir viel geholfen. Wir haben sehr früh mit dem Windsurfen begonnen und haben es uns selbst beigebracht. Ronan war 15, ich zehn, und er hat mich immer unterstützt. Die ­großen Wellen in der Bretagne konnten ziemlich imposant sein.


Windsurfen Sie immer noch?
Ich habe mit 15 damit aufgehört, und vor fünf Jahren auch mit Surfen. Ich segle jetzt lieber. Auf dem Wasser gibt es nicht viel zu tun, also ist man fast gezwungen, viel nachzudenken. Zeichnungen sind eine Art, nicht zu vergessen, was sich in deinem Gehirn abspielt. Ein Sketchbook hilft, das festzuhalten.


Drei Wörter, mit denen Sie Ihren Bruder beschreiben würden?
Ronan ist sehr instinktiv. Er hat eine hohe Erwartung an seine Arbeit. Und er ist recht unorganisiert, was manchmal lustig zu beobachten ist. Ein Teil seines Lebens ist sehr organisiert, der andere umso weniger. Das betrifft vielleicht uns beide. In der Arbeit sind wir beschützt. Aber wir sind Autodidakten. Manchmal verwenden wir Methoden, die ich Studenten nicht erklären würde, weil es nicht wie der geeignete Weg erscheint. Um unseren Anforderungen gerecht zu werden, verlieren wir vermutlich eine gewisse Fähigkeit, uns um andere Bereiche des Lebens zu kümmern.


Welchen Charakterzug Ihres Bruders hätten Sie gerne?
Ich bin vom Typ her eher Träumer. Ich kümmere mich manchmal nicht um die Realität. Ihn beschäftigt es viel mehr, was in der Welt passiert, gerade auch in der Welt des Designs. Ich bin davon manchmal zu weit weg, und habe hin und wieder ein schlechtes Gewissen, dass ich auch mehr in diese Richtung inte­ressiert sein sollte.


Die kritischste Situation, in der Sie jemals waren?
Wir kreieren permanent eine kritische Situation. Das mag schwierig zu verstehen sein, denn aus irgendeinem Grund wirkt unsere Arbeit auf die Menschen sehr natürlich. Andererseits geraten wir immer öfter in Situatio­nen, in denen wir mehr und mehr zweifeln. Das bringt immer eine kritische Situation mit sich. Es gibt viele Diskussionen, und das Schwierigste ist, eine längere Zeit da durchzugehen. In einem permanenten Zustand des Hinterfragens zu leben, ist manchmal etwas heavy.


Hatten Sie jemals das gleiche Objekt der Begierde?
Nicht, dass ich wüsste.

Jetzt kommt der gemeinsame Part. Ronan gesellt sich zu Erwan. Ruhig sitzen sie nebeneinander. Man kann sich die beiden auch als Philosophen vorstellen. Ihre Antworten kommen nicht wie aus der Kanone geschossen. Sie überlegen lange, sie sprechen leise, und es hat tatsächlich den Anschein, als würden sie auch im Interview das machen, was sie in ihrem Studio machen – Fragen lösen, ständig auf der Suche sein, sich nicht mit der bequemsten Lösung zufriedengeben. Um ein Objekt herumschleichen und es von allen Seiten betrachten. Im Hintergrund werden bereits die Outfits zusammengestellt, die sie danach tragen werden.


Bei einem französischen Duo ist der Vergleich erlaubt: Sind Sie eher die Daft Punk oder Air des Designs?
Erwan: Definitiv Air. Auch in der Art, in der sie sich präsentieren, bevorzugen wir den Charakter von Air.
Ronan: Wir sind nicht wirklich Freunde, aber wir kennen die beiden auch. Sie haben sich erst vor zwei Jahren ein Studio gekauft, das sich 200 Meter von unserem entfernt befindet. Manchmal essen wir im gleichen Restaurant.

 

Design ist eine sehr globale Angelegenheit. Gibt es etwas, was Sie als französisch an Ihrer Identität bezeichnen würden?
Ronan: Das müssen eher Kritiker oder Journalisten beantworten. Ich fühle mich dem Französischen nicht so verbunden, aber natürlich ist der Background wichtig. Wahrscheinlich wäre es das Gleiche, wenn wir in England auf dem Land aufgewachsen wären. Gestern war ich in einer Ausstellung über französisches Design der 50er- bis Mitte der 70er-Jahre. Viele der besten Designer sind Franzosen. Aber ich bin ebenso fasziniert von Bauhaus oder den 50er-Jahren in Amerika. Vermutlich ist die Tatsache, dass wir uns immer beschweren und nicht leicht zufrieden sind, ein französischer Zug.
Erwan: Aber wir sind eindeutig tief in der westlichen Kultur verwurzelt. Manchmal vergessen wir, wie dominant die westliche Kultur in der Welt ist, und andere verschwinden aus dem Fokus. Deswegen interessiert mich, was in Afrika oder Asien passiert. Wir verbringen einen großen Teil unserer Zeit damit, Stühle zu entwerfen, was in der westlichen Zivilisation eine Selbstverständlichkeit ist – aber nicht in anderen Teilen der Welt.


Wie würden Sie Ihren Arbeitsprozess beschreiben?
Ronan: Wir beschäftigen uns mit fünf bis zehn Projekten am Tag. Wie Vögel, die auf Nahrungssuche am Himmel kreisen, dann stoßen wir in einem Moment hinunter. Wir haben viele Zeichnungen und Modelle, um die wir im Studio herumschleichen. Manchmal passieren die Dinge schnell, manchmal macht man monatelange Recherchen und nichts passiert. Wir haben nicht wirklich eine Methode. Das meinte ich damit, dass man uns als romantische Designer bezeichnen könnte. Andere Design-Studios arbeiten sehr effizient, mit einem klaren Prozess und einer klaren Arbeitsweise. Wir nicht. Wir werfen zwar nicht ständig unsere Methoden über Bord, aber wir sind nicht mechanisch durchorganisiert.
Erwan: Es ist mehr atmosphärisch. Es hat mehr mit Sinnlichkeit zu tun. Wichtig ist das Resultat. Manche Designer erreichen diese Resultate am Computer, wir müssen die Dinge mehr testen. Wir haben als Autodidakten angefangen und mussten unsere eigenen Wege finden, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Jetzt haben wir zumindest ein besseres Verständnis der Dinge.
Klingt nicht, als würde Sie Ihre Methoden weiter­empfehlen …
Erwan: Im Studio haben wir immer Praktikanten oder Leute, die keine Erfahrung hatten. Ich selbst habe lange gebraucht, um zu verstehen, wie tief Design sein kann. Wir versuchen so viel zu verfeinern wie möglich. Diese Intensität lernt man bei uns schon. Manchmal gibt es einen Mangel an Qualität im Design. Viele Dinge landen auf dem Markt, obwohl sie nicht perfekt genug sind, um wirklich zu überleben. Wenn man ein Produkt auf den Markt bringt, in einer gewissen Quantität, ist es wichtig, dass es funktioniert und eine gewisse Reinheit hat.
Ronan: Vielleicht ist Reinheit nicht das richtige Wort.
Erwan: Er hat manchmal Probleme mit gewissen Wörtern.
Ronan: Pur oder rein ist eben kompliziert zu definieren.
Erwan: Also, ich meine „pur genug“ im Sinne seines eigenen Charakters, seiner Logik, durch die das Objekt einen Anfang und ein Ende hat.

 

Die Objekte sollen für sich selbst sprechen – ist das der Grund, warum Sie weniger das Rampenlicht suchen?
Ronan: Design ist seit 20 Jahren sehr interessant für die Medien. Also kann jemand, der sehr gut auftreten kann, auch bekannter sein als jemand, der überhaupt nicht spricht. Es ist einfach nicht unsere Stärke. Wir verwenden teilweise das Internet, um ein Projekt zu pushen. Aber das Wichtigste ist die Qualität der Arbeit, dass das Objekt in seiner Umgebung leben kann. Es geht darum, einen halben Tag in einem Sofa lesen zu können, ohne dass der ganze Körper schmerzt.
Erwan: Manchmal ist es auch wichtig, sich zu präsentieren. Konzeptuelle Sachen, die etwa für eine Ausstellung entworfen werden, können so zu Produkten werden, wie etwa die „Clouds“ oder „Algues“. In dieser Hinsicht ist es wichtig, die Sachen zu erklären. Vieles, was Philippe Starck macht, beruht auf dem, was er sagt. Aber man muss vorsichtig sein. Es gibt ein schlimmes Star-System im Design, und manchmal verkaufen Designer ihre Produkte nur über ihre Kommunikation. Das ist nicht unsere Stärke. Wir sind besser beim Formen und Zeichnen.


Liegt es auch an dem Gefühl, die eigene Arbeit zu ­betrügen?
Erwan: Ja und nein. Ich entwerfe Produkte, um sie zu verkaufen. Gleichzeitig fürchte ich, dass Menschen zu viel kaufen. Das ist das tiefe Problem: Menschen wechseln Dinge, die gar nicht gewechselt werden müssten. Manchmal habe ich Angst, in dieser Hinsicht ein Betrüger zu sein, indem ich Dinge entwerfe, die Leute veranlassen, etwas zu kaufen, was sie gar nicht brauchen. Auch deswegen ist es wichtig, sich manchmal zu erklären.


Glauben Sie an die soziale Revolution von Design, nicht nur die ästhetische?
Ronan: Design ist ein kleines Wort für eine große Disziplin, die praktisch unseren ganzen Alltag umgibt, vom Auto bis zum iPhone. Manchmal vergleiche ich unser Gebiet mit dem der Medizin. Es gibt viele schlechte Ärzte, die den Menschen etwas verschreiben, was sie nicht brauchen. Bei manchen Firmen ist es dasselbe. Sie fragen bestimmte Designer, und die verschreiben das Falsche. Die Dinge sind heute stark miteinander verbunden. Es gibt so etwas wie eine große Revolution in Form einer bestimmten Transformation nicht mehr. Viel eher so, dass viele kleine Sachen gemeinsam eine bessere Situation schaffen können. Wir selbst haben da nur einen kleinen Einfluss. Manchmal ist das überraschend. Einmal kam eine italienische Firma auf uns zu und meinte ganz offen, sie hätte hier einen Haufen spezialisierter Arbeiter für einen bestimmten Stoff, und wir sollten für diesen Stoff etwas entwerfen, damit die Arbeiter Beschäftigung hätten.


Design, die stille Revolution?
Ronan: Eigentlich sollten die Menschen weniger leise sein, finde ich.
Erwan: Unsere Zivilisation ist an einem entscheidenden Punkt angelangt. Unser Lebensstandard ist eine ziemliche Leistung. Vor 100 Jahren konnten Frauen nicht abtreiben oder wählen. Menschen sind im Winter erfroren. Wir haben uns schnell entwickelt. Aber diese Freiheit wurde mit Gewohnheiten erreicht, die für die Zukunft nicht mehr tragbar sind. Wir wissen alle, dass es nur so lange funktioniert, solange nur unsere westliche Kultur so lebt. Wenn aber auch andere Teile der Erde so viel Fleisch wie wir essen würden oder so viele Produkte verwenden würden, hätten wir ein Desaster. Bio-Essen ist da ein gutes Beispiel für die das gegenseitige Verständnis von Konsument und Produzent. Unsere Art, dazu beizutragen, ist, ebenfalls über die Nachhaltigkeit von Objekten nachzudenken.


Weil Design die Zukunft in die Gegenwart verlagert?
Erwan: Design kann die Gesellschaft nicht verändern. Aber es kann sehr wohl bestimmte Strömungen begleiten. Nehmen Sie beispielsweise das Sofa, eine Sache, die mich immer fasziniert: Keiner weiß, seit wann es ein Sofa überhaupt gibt, Bänke gab es fast schon immer. Aber woran man die Entwicklung sehen kann, ist die Sitzposition. Früher saß man aufrecht, mit der Zeit ist man in eine liegende Position gerutscht. In den 60ern gab es viel soziale Veränderung, die Leute wollten relaxter sein. Design ist da, um solche Bewegungen aufzugreifen.
Ronan: Vielleicht leben wir in einer komplexeren Zeit, aber unser Genre bewegt sich heute teils außerhalb der Realität. Ich bezweifle, dass sich das alles wieder verbinden wir. Der soziale Aspekt von Design ist jedenfalls weit geringer als in anderen Perioden. In den 20er- und 30er-Jahren stand Design viel stärker mit politischen Fragen in Verbindung.


Was sollen die Menschen mit Ihren Objekten erleben?
Erwan: Oft geht es darum, die Menschen an der Entscheidung teilhaben zu lassen, wie sie die Dinge arrangieren. Man selbst soll entscheiden, wie man leben will, man soll nachdenken über die Dinge, die einen umgeben, und wie sie einem von Nutzen sind. In diesem Sinne geben wir den Menschen eine Richtung, wie die Zukunft sein könnte. Sie sollen mehr daran denken, wer sie sind. Vielleicht kann man unseren Ansatz mit Haute Couture vergleichen.
Ronan: Wir leben in einer Zeit, in der sich zu viele Menschen zu einem Abbild aus einem Magazin machen wollen. Mode dreht sich darum, was Stars tragen, wo man diese Dinger bekommt oder, falls man sie sich nicht leisten kann, billigere Alternativen. Das ist schrecklich. Als ob man eine Uniform nachahmt. So sollten wir nicht leben.


Bleibt es Haute Couture oder werden Sie auch stärkere Massenware machen?
Erwan: Wir sind nie von Ikea angesprochen worden. Wir haben nie Massenware gemacht. Grundsätzlich spricht nichts dagegen. Aber das Erste, was wir in Erwägung ziehen bei der Frage, ob wir ein Projekt annehmen oder nicht, ist, ob wir genügend Freiheit haben, etwas anderes zu tun. Wenn es die nicht gibt, lassen wir es sofort. Wir sind immer am Entwerfen. Wir sind praktisch besessen, etwas Neues zu machen und nicht ein Rewrite. Wir verstehen die Anforderungen, um ein Massenprodukt zu machen. Aber die Firma müsste ebenso innovativ sein in ihren Ansichten.
Ronan: Manchmal ist der beste Weg, um etwas zu verändern, wenn man kopiert wird. Ich würde gerne etwas für Ikea machen, aber ich weiß nicht, was besser ist: Dass sie uns ­kopieren – oder das Ergebnis, das rauskommen würde, wenn wir für sie arbeiten würden. Wahrscheinlich ist es besser, Haute Couture zu machen, Dinge, die nicht in riesigen Mengen verkauft werden, aber eine gewisse Richtung und Atmosphäre vorgeben. Und dann kopiert zu werden.


 

 

 

DESIGN UNTER BRÜDERN

 

Die französischen Gestalter Ronan und Erwan Bouroullec sind die
Designer mit dem feinsten Gespür für unsere Wohnzukunft. Im Interview
geben die beiden H.O.M.E.-Designer des Jahres tief(sinnig)e Einblicke in
die Wohnwelten von morgen, präsentieren die Haute Couture des Möbel-designs und verraten, warum es manchmal schön ist, kopiert zu werden

 

 

 

Interview

Stefan Adrian 

 

Fotos

Eva Sakellarides 

 

Assistenz

Maya Zardi 

 

Produktion

Florentine Knotzer  

 

Styling

Stephanie Brissay/Florence Moll 

 

Assistenz

Lénaig Le Gac 

 

Make-up & Haare

Djenete Bouadjaj




Komplette Story: H.O.M.E. Dezember 2010